Was Zahnspangen anbelangt, habe ich in meiner Kindheit nahezu alles mitgemacht, was man da mitmachen kann. Es begann mit einem Fahrradunfall während meiner Grundschulzeit. Wir fuhren in einer kleinen Gruppe nach der Schule nach Hause, als ich K., die vor mir fuhr, in den Hinterreifen fuhr und klassisch über den Lenker abstieg. Abgefangen wurde der Sturz von meinem Kinn, woraufhin ich mir den Oberkiefer brach und den Unterkiefer anbrach. Außerdem habe ich die vier oberen mittleren Schneidezähne verloren. Es waren noch Milchzähne, zumindest das war also nur halb so schlimm. Wann ich dann die erste Zahnspange, auch Klammer genannt, bekam, weiß ich nicht mehr genau. Es war jedenfalls eine lose, also eine zum rausnehmen, bestehend aus zwei Teilen; eins für oben, eines für unten. Der obere Teil war mit einer Art Widerhaken versehen, an dem der untere Teil hängen blieb, denn eine Folge des Fahrradunfalls war ein starker Überbiss. Der sollte in einem ersten Schritt hierdurch korrigiert werden. Funktioniert hat es. Heute muss ich mir oft sagen lassen, dass ich recht "emotionslos" dreinblicke – ich meine, das ist auf diese Korrektur zurückzuführen. Das Kinn sitzt praktisch viel weiter vorne. Das schönste, nein, das einzig schöne bei Klammern ist das Abdrucknehmen. Da bekommt man eine bunte Pampe fest an den Kiefer gedrückt und muss abwarten, bis diese aushärtet. Geschmacklich ließe sich da sicher einiges verbessern und im Sinne der Kundenfreundlichkeit sollte man zumindest die Sorten Erdbeere und Schoko anbieten, aber auch ohne definierbaren Geschmack ließ es sich aushalten. Vor allem wusste man schon vorher, dass es eine schmerzlose Prozedur ist. Bei allem anderen hieß es immer: "Das könnte gleich ein bisschen weh tun." Und das in einem Alter, in dem man körperlichen Schmerz noch für den schlimmsten möglichen hält. Wie auch immer, nachdem die Position meines Unterkiefers angemessen nach vorne korrigiert war, bekam ich eine feste Klammer. Der Alptraum eines jeden Jung-Teenies. Es war dann aber weniger schlimm. Zwar schmerzten die Zähne die ersten paar Tage ziemlich stark, das hatte ich mir aber größtenteils selber eingehandelt, da ich die lose Klammer zu unregelmäßig getragen hatte, als dass sie als Nebenfunktion zur Kieferpositionskorrektur auch gleich die Zähne hätte richten können. Die waren nämlich als weitere Folge meines Fahrradunfalls wild in verschiedene Richtungen gewuchert. Bevor ich überhaupt eine feste Klammer bekam, mussten erst einmal vier Zähne gezogen werden, zwei oben, zwei unten. Und das waren keine Milchzähne; die Lücken sind heute aber nicht mehr ersichtlich. Es stellte sich weiterhin heraus, dass die Weißheitszähne schief wachsen würden. Also: rausoperieren. Zwei Termine, erst rechts, dann links. Wenigstens hat es mir insgesamt eine Woche schulfrei eingehandelt, denn auf der einen Seite hat der gute Zahndoktor so gepfuscht, dass das Wort "angeschwollen" als Beschreibung für meine Wange etwas spöttisch wirkt. Die andere Seite lief besser, allerdings hatten wir da auch Schulferien. Als diese Prozeduren abgeschlossen waren, kam wie erwähnt die feste Klammer. Damit gab es die üblichen Probleme, etwa dass die Hälfte eines Apfels noch in der Klammer hing, als man meinte den Apfel längst schon gegessen zu haben. Und das grinsen hat man sich auch versucht abzugewöhnen. Wer weiß, ob nicht noch etwas Frühstücksbrot in der Klammer hängt, das man noch nicht mit der Zunge ertastet und herausgeprokelt hat. Die Zunge musste überhaupt sehr leiden, denn sie diente unter anderem dazu, die Klammer unauffällig wieder von diversen widerspenstigen Speiseresten zu befreien. Verhakte man sich währenddessen mit der Zunge zwischen einer der Klammerhalterungen, die auf die Zähne geklebt waren, und dem Draht, der diese Halterungen umspannte, so war eine Befreiung meist nur unter Einbuße eines (sehr) kleinen Stückchens Zunge möglich. Weshalb diese häufiger als zuvor blutete, leicht vernarbte und etwas unempfindlicher wurde; wohl auch, was den Geschmack angeht. Diese feste Klammer musste ein paar Mal angepasst und gewartet werden, bis ich sie schließlich los wurde. Da die perfekte Position noch nicht erreicht werden konnte, ein paar Zähne, die man mir nicht auch noch ziehen wollte, saßen noch immer nicht optimal, gab es wieder eine lose Klammer – mit Gesichtsbogen, um die Zähne gewaltsam zurück zu ziehen. Ein Gesichtsbogen ist die absolute Höchststrafe. Man mag aufgeklärt sein, wie man will und sich sagen, dass das äußere Erscheinungsbild ja nicht so wichtig sei, blabla, getragen habe ich diesen Bogen in der Öffentlichkeit jedoch nie. Obwohl ich eigentlich musste. Immer nur nachts und zu Hause, wenn ich keinen Besuch hatte, habe ich auch den Bogen getragen. Eine Eigenschaft eines solchen Bogens ist es, dass er natürlich an den Seiten aus dem Mund heraus kommt. Wer also auf der Seite schläft, sabbert im Schlaf, denn der Mund ist ja an den Stellen, an denen der Bogen selbigen verlässt offen. Und ich schlafe fast ausschließlich auf der Seite, habe also wirklich viel gesabbert. Irgendwann gewöhnt man sich daran, aber die ersten Wochen war es wirklich der Horror. Vor allem wenn die Sabber an den Wangen festtrocknet und am Morgen wieder entfernt werden muss. Das ist schon ein leicht erniedrigendes Gefühl. Als auch das Zurückziehen der Zähne halbwegs geklappt hat, konnte der Gesichtsbogen wegfallen. Eine weiter lose Klammer blieb aber. Auch die habe ich natürlich nur unregelmäßig getragen, was der Zahndoktor mangels Kompetenz oder mangels Interesse jedoch nie festgestellt hat.
Heute kommt es immer mal wieder vor, dass ich im Traum eine lose Klammer trage. Diese sitzt derart fest, dass mir die Zähne schon beim ersten Einsetzen sofort schmerzen. Meist wache ziemlich schnell aus diesen Träumen auf, da ich im Traum daran scheitere, mir die Klammer vernünftig heraus zu nehmen, was schließlich in einer Art Sumpf voll (Traum-)Schmerz und Pein endet. Was Klammern angeht, bin ich auf jeden Fall tief geschädigt, daran führt kein Weg vorbei.
Heute kommt es immer mal wieder vor, dass ich im Traum eine lose Klammer trage. Diese sitzt derart fest, dass mir die Zähne schon beim ersten Einsetzen sofort schmerzen. Meist wache ziemlich schnell aus diesen Träumen auf, da ich im Traum daran scheitere, mir die Klammer vernünftig heraus zu nehmen, was schließlich in einer Art Sumpf voll (Traum-)Schmerz und Pein endet. Was Klammern angeht, bin ich auf jeden Fall tief geschädigt, daran führt kein Weg vorbei.
iatbe - am Sonntag, 17. Oktober 2004, 18:21 - Rubrik: Ueberhaupt und ausserdem