Der Wechsel vom "Tante Emma Laden" hin zu irgendeiner Einzelhandelskette ist vielerorts bereits längst vollzogen. Die meisten Beispiele die ich dazu kenne, gingen im Laufe der Jahre dazu über, dass nicht nur der "Tante Emma" Charme verloren ging, sondern dass in diesen prinzipiell eher kleinen Läden ein SB-Warenhaus Gefühl aufkam. Darüber hinaus hat sich die Freundlichkeit der Mitarbeiter/innen ebenfalls negativ angepasst. Einen Lichtblick habe ich heute beim Kauf eines Weihnachtsbaumständers erleben dürfen. Nicht weit von meiner Wohnung wollte ich einen solchen erwerben, nachdem mir A. erzählte dass es dort welche gebe und sich zuvor außerdem herausgestellt hat, dass der geliehene für den frisch erworbenen Baum zu klein ist. Im besagten Einzelhandelskettenladen angekommen konnte ich leider keine Baumständer mehr ausfindig machen – da ich noch nie zuvor dort war, hatte ich aber auch nur eine mangelhafte Orientierung. Also beschloss ich schweren Herzens, einen Mitarbeiter nach den Baumständern zu fragen. Ich weiß ja, wie die für gewöhnlich auf unangemeldete Kundenfragen reagieren; wenn sie überhaupt reagieren. Umso überraschter war ich, als mir die Verkäuferin bestätigte, eben noch einen auf dem Band gehabt zu haben. Also einen Baumständer auf dem Warenband an der Kasse. Vielleicht wüsste das aber Herr X, den sie auch prompt herbei klingelte. Die Klingel klang wie die Schulklingel in meiner alten Grundschule. Ebenso trantütig, wie wir uns nach dem klingeln der Schulklingel zu Grundschulzeiten in die Klasse begaben, kam Herr X von irgendwoher. Er dachte kurz über die Frage nach den Baumständern nach – was mir verriet, dass die Baumständer, von denen er dachte, dass ich sie suche, garantiert nicht mehr da sind – und bedeutete mir dann, ihm zu folgen. Etwa fünf Meter von der Kasse entfernt stand ein "Grabbeltisch", auf dem auch noch ein Baumständer vorrätig war. Einer mit einer großen Fassung, allerdings ohne einem Behältnis um Wasser einfüllen zu können. Was dachte er, wie lange ich den Baum stehen lassen will? Das besondere an dem Ständer war, dass die eigentliche Fassung von einer recht wuchtigen Weihnachtsmannfigur aus Gips umschlossen war. Diese war allerdings an einigen Stellen reichlich angeschlagen. Noch ehe ich etwas sagen konnte, meinte Herr X., dass er dafür im Preis runtergehen werde – wenn ich mir so einen Baumständer als meinen Baumständer überhaupt vorstellen könnte. Ich konnte. Problematisch war, dass das Preisschild nur noch zur Hälfte auffindbar war und auch der Scanner an der Kasse nichts mehr mit dem Baumständer anzufangen wusste; ohne Preisgrundlage sind Verhandlungen über einen Nachlass natürlich schwierig. Herr X. wollte deshalb noch einmal im Lager nachschauen, ob er noch eine alte Preisliste finden könne. Ich überlegte mir schon, dass ich für diesen zwar leicht kitschigen aber stabilen und schweren Baumständer aufgrund seiner unübersehbaren Blessuren höchstens zehn Euro bezahlen wollte und machte mich schon darauf gefasst, dass Herr X. mindestens das doppelte verlangen würde. Herr X. kam nach zwei Minuten zurück und offerierte mir den Baumständer für 7,50 Euro, was ich dann guten Gewissens auch annehmen konnte, wert war er – im tadellosen Zustand – allemal mehr. Überrascht von diesen menschlichen Zügen, bezahlte ich schließlich und verließ reichlich perplex – damit hatte ich nun gar nicht gerechnet – den Einzelhandelskettenladen. Ein Stück "Tante Emma" lebt scheinbar in diesem Laden noch weiter.
iatbe - am Mittwoch, 22. Dezember 2004, 18:08 - Rubrik: Der Alltag