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In der Hitze der Nacht

Es ist halbdunkel draußen, vielleicht vier Grad über Null, es regnet und der Wind weht kalt ins Gesicht. Der langsame Blick von Süden nach Westen bis Norden lässt einen über folgendes Wechselspiel staunen: graue Regenwolken im Süden, die den Blick auf's nahe gelegene Mittelgebirge verwehren, Sonnenuntergangsrot im Südwesten, das einen vergessen lässt, dass noch immer der Winter regiert und ein am-Horizont-ist-noch-Tag-Blau im Westen, über dem weitere Wolken wie an der Schnur gezogen hängen. Zwischen den Wolken und dem Horizontblau ein Band Wolken, die das Rot reflektieren. Und hier mein kümmerlicher Versuch etwas in Worte zu fassen, das weder Bild noch Text auszudrücken vermögen. Es wird niemals eine technische Errungenschaft geben, die es ermöglicht, solche Eindrücke lebensecht zu spiegeln, da bin ich inzwischen sicher. Und froh darüber.

Und für einen Moment wirkte alles so, als sei es nicht das Flugzeug, das schnell über die Wolken hinwegfliegt und als sei es nicht die Erde, die über die hinweggeflogen wird, sondern als drehte sich die Erde schnell unter dem Flugzeug her und als schwebte das Flugzeug still in der Luft.

Ich habe heute morgen vom Weltuntergang geträumt. Vermutlich durch die Dokumentation inspiriert, die ich gestern auszugsweise gesehen habe und in der die Gletscherschmelze thematisiert wurde, war es eine wahre Wasserflut, die eine Art Insel geschaffen hat, auf der sich eine kleine Menschenmenge drängte und ums Überleben fürchtete. Es bildeten sich Grüppchen, gewaltsame Auseinandersetzungen wie sie in Filmen wie “Mad Max“ oder “Waterworld“ gezeigt wurden, gab es aber kaum. Zwischendurch gab es einen Bruch im Traum und ich war in dem Haus, in dem ich vor dem Umzug gelebt habe. Es gab einen Schneesturm wie seinerzeit im November 2005, als hier stundenlang der Strom ausfiel (andere Teile Deutschlands hatte es aber noch viel härter getroffen). Das müsste entweder völlig unabhängig vom Inseltraum oder aber zeitlich davor gewesen sein. Später war ich wieder auf der Insel und traf dort jede Menge meiner ehemaligen Mitschüler. Das erschreckendste an der ganzen Sache war, dass die ganze Hässlichkeit des menschlichen Wesens illustriert wurde. Es war in dieser Situation mal wieder so, dass Niederträchtigkeit und Bestechlichkeit, Unzuverlässigkeit und das Sinnen nach dem eigenen Vorteil bestimmend für das Leben dieser unfreiwilligen Gemeinschaft waren. Leider fehlen mir wichtige Teile des Traums in der Erinnerung, um daraus einen Roman zu verfassen. Das wäre sicher eine interessante Geschichte geworden – auch wenn ähnliches schon filmisch oder auf Papier festgehalten wurde.

Erschreckend allemal, wenngleich ich das ganze nicht als klassischen Alptraum [sic!] bezeichnen würde.

Die Bande lösen sich und all jene, die an den Enden kleben und glaubten, es würde ewig währen, gar nicht anders können, müssen schmerzvoll erfahren, wie lose die Verbindung ist, wie porös und brüchig die Bande wirklich sind. Andere, die an den Enden kleben, denen es aber scheinbar nichts ausmacht, merken nicht einmal, dass etwas vor sich geht. Naiv glaubte ich lange an einen Traum, nun sehe ich, wie er in tausend Scherben zerbricht. Zerbricht wie ein Spiegel, der lange glaubte, er hinge an einem Haken und als er merkte, dass da nie ein Haken war, herunterfiel: der Glaube an eine Sache ist nie stark genug, wenn die Sache selbst nicht auch auf starkem Fundament gründet.
Diejenigen, die sich lösen, glauben ihrerseits wieder, richtig zu handeln. Sie sind mit ihrem Gewissen im reinen und merken nicht was sie anderen antun. Ich weiß das, ich habe es selbst durchlebt. Vielleicht erst, wenn es zu spät ist, vielleicht auch kurz davor - was wünschenswert wäre und wie es bei mir der Fall war - wird es ihnen bewusst. Aber die Welt wird sich bis dahin weiter drehen und das, was wir einmal hatten werden wir nie wieder zurück bekommen. Dafür ist es schon jetzt zu spät und ich weiß es nicht anders auszudrücken als in diesen Worten; auch wenn es mich innerlich zerreißt.

Als er meinte aufzuwachen, konnte er sich wage an die vergangene Nacht erinnern. An eine zigarettenrauchdurchschwängerte und alkoholfeuchte Party. Er wusste, er hatte viel getrunken, auch wenn der Whisky unterste Kanone war. "Die Flasche hat nur 6,79 Euro gekostet", gab ihm Maik zu verstehen. "Ja, das schmeckt man", lachte er zurück. "Und ich schätze morgen werde ich ein echtes Gefühl für jeden Cent entwickeln, der am Preis zu einem guten Whisky fehlt. Is' schon in Ordnung", und mit einem Augenzwinkern Ex-te er das dritte Glas Whiskycola. Der Titel Whisky kam für dieses Gesöff wirklich einer Erhebung in den Adelsstand gleich. Er quatschte ein bisschen durch die Gegend und alberte mit seinen Kumpels herum, als alle etwa zwei Stunden nach der Whiskypreisoffenbarung bereits deutlich angetrunken waren. Dies war eine der Partys, die irgendwie und aus einem unerfindlichen Grund ausnahmslos grandios waren. Der Alkohol floss in Massen und für die nötige Grundlage sorgten Kartoffelchips. Nicht wirklich eine Grundlage, aber niemand wollte ernsthaft eine Grundlage. Außerdem rauchte er wie ein Schlot, wobei er eine sehr ordentliche Figur dabei machte, sich durchzuschlauchen. Eigene Zigaretten hatte er zu Hause vergessen. Schon nach gut vier Stunden erlebte er einen gewaltigen Absturz inklusive Filmriss. Während dieser Filmrisszeit entstanden einige Aufnahmen in seinem Hirn, die trotz allem präsent waren. Irgendwann torkelte er nach draußen und ließ dabei sein Bierglas fallen. Es landete in einer wahren Massenversammlung zersplitterter Willi-Becher und war folglich in guter Gesellschaft. In der Tür stand ein Pärchen, dass sich gegenseitig angekotzt hatte und darüber äußerst amüsiert schien. Irgendwer bölkte: "Geile Party, Alter. Echt geile Party!" Mehr als ein "Häh?" brachte er aber nicht mehr heraus - außerdem war er gar nicht Veranstalter dieser Party; das war Maik. 6,79-Euro-Maik. Auf dem Hof lagen zwei Gestalten und schliefen ihren Rausch aus. Er stolperte über eine von ihnen und konnte sein Gleichgewicht gerade noch so halten, wie es nur ein sturzbetrunkener schafft, der eigentlich nicht einmal mehr in der Lage ist, geradeaus zu gucken. "Ey, könnta mich mitnehm'" lallte er Annika und Michael zu, die beide gerade im Begriff waren, die Party zu verlassen. Annika hatte beschlossen, dass beide genug hätten. Sie hatte die unkluge Entscheidung getroffen, heute den Fahrer zu mimen und Michael hatte noch gesagt, er wolle sich heute etwas zurück halten. Nachher im Bett vielleicht, beim saufen stand er jedenfalls wieder in der ersten Reihe dachte Annika noch beiläufig, als sie ihm den Blick zuwendete und sagte: "Jau, wenn du mir das Auto nicht vollkotzt. Wehe, dann knallt's!" "Keindingpassiertschonnichtkennstmichdoch", plapperte Michael dazwischen. Alle drei stiegen ins Auto und er schlief ein. Kurz bevor sie bei ihm zu Hause ankamen wachte er auf, wie ihm das immer passiert. Eine Art innerer Kompasswecker. Er tat möglichst nüchtern als er sich von Annika verabschiedete - Michael schlief ebenfalls -, sie grinste ihn mit einem "Tschüß und eine gute Nacht" an. Sein Talent, in wirklich jeder geistigen und körperlichen Verfassung das Türschloss zu bedienen verschaffte ihm Eintritt in seine Wohnung. Er bückte sich kurz auf dem schmalen Flur um seine Schuhe zu öffnen und lachte dabei, weil er nicht umfiel. Dann schoss er beide Schuhe in Richtung Küche "macht schon mal Frühstück" und ging in Richtung Schlafzimmer, während er seine Klamotten auszog, neben sich fallen lies und seine Blase im gehen entleerte. Er ließ sich auf sein Bett fallen und fiel in einen tiefen Schlaf. Nur kurz später wachte er auf und musste kotzen. Der unangenehme Geruch von erbrochenem Whiskykartoffelchipsbrei stieg ihm in die Nase, war erfreulicherweise aber nach einigen Minuten wieder völlig verschwunden. Überhaupt war die Nacht recht ruhig, gut, dass ich noch schnell auf den Flur gepisst habe, sonst müsste ich sicher noch raus auf Toilette. Irgendwann wachte er auf. Er wunderte sich, dass er sich fast wohl fühlte. Kein Kotzegeruch, nirgendwo die Spur eines markigen und zugleich faszinierenden Bierschisses, die Nase brannte nicht vom Zigarettenqualm und dem Endprodukt der Nebelmaschine, die Maik eigens für die Party geliehen hat. Eine Nebelmaschine für eine Garagensaufparty. Das muss man sich mal vorstellen. Auch die Finger rochen nicht übelkeiterregend nach paprikagewürzten Kartoffelchips. Alles in allem schien dies zur Überraschung aller ein vielversprechender Morgen zu werden. Darüber noch einigermaßen amüsiert - alles eine Sache des Trainings - drehte er sich um und stand auf. Dann blickte er auf seinen toten Körper hinab und sah, dass er in der Nacht an seinem eigenen Erbrochenem erstickt war. Wie klassisch, dachte er und um ihn wurde es dunkel und kalt. Wie klassisch.

Julia wachte am frühen Morgen auf, sie hustete und dachte unweigerlich: das war definitiv meine letzte Zigarette. Die Jalousie war hochgezogen, obwohl sie der Meinung war, sie am Abend zuvor heruntergelassen zu haben. Es schien matt eine blass-kalte Sonne, das Zimmer war noch schwarzerfüllt von der Nacht. Sie stieg langsam aus dem Bett, was ihr Schmerzen in den Füßen bereitete – sie fühlte sich überhaupt unwohl –, passierte die Zimmertür und war auf der Straße: draußen war es frisch, aber nicht unangenehm. Im Gegenteil, die dunkle und kühl-trockene Windstille auf ihrer Haut zu fühlen war herrlich. Leise Stimmen surrten in ihrem Kopf, sie klangen vertraut jedoch verstand sie die Worte nicht, die sie ihr zuzuflüstern schienen. Die Müdigkeit war noch immer überwiegend, sie ging einfach weiter. Die Straße ihres Weges war menschenleer, auch Vögel am Himmel gab es keine. Es wurde dunkler, je weiter sie rückwärts durch ihr Leben schritt. An einer graufelsigen Schlucht angekommen, sah sie den Anfang ihres Lebens vor sich, der nun schon fast dreiundzwanzig Jahre zurück lag. Julia dachte, dass es wohl komisch sei, seine eigene Frühkindheit zu sehen, an die man sich bewusst fast gar nicht erinnern konnte. Wenn sie näher darüber nachdachte, kam sie sogar zu dem Schluss, dass sie sich eigentlich an ihr ganzes Leben nicht so recht erinnern konnte. "Du hast nie gelebt", sprach der Mann-vom-Ende-der-Welt durch ihren Mund; er saß unten in der Schlucht auf einem toten Baumstumpf. Er sprach eine Sprache die sie nicht kannte und deren Worte sie nicht zu hören vermochte. Der Mann-vom-Ende-der-Welt nickte verstehend. Sie lag ja auch vollkommen richtig mit der von ihm getroffenen Aussage. "So ist es also", sprach sie und eine leise Träne rollte über ihre Wange.

Die Wolken bilden eine müd-trübe Decke, die die Erde unter ihr noch kühl bedeckt hält. An einer Stelle bricht die leicht verschlafene Sonne hindurch und erhellt einen silbrig-weißen Flugzeugkondensstreifen zu einer abstrakten Sonnenuhr. Sie sagt sanftmütig lächelnd: wieder zu spät.

"Ich, ich bin zu 28 Prozent Boheme."
- "Und die restlichen?"
"Hm?"
- "Wasser. Letztlich bestehen wir alle mehr oder weniger nur aus Wasser."
"Ah."
- "Wusstest du, dass es auf einer Südseeinsel eine Medusenart gibt, die völlig abgeschnitten vom Meer in einem Süßwassersee im Inselinneren leben? Das ist äußerst ungewöhnlich für Medusen."
"Nein, war mir nicht bekannt."
- "Und das, wo ihre ursprüngliche Hauptnahrung – Plankton – in diesem See überhaupt nicht vorkommt."
"Na sie werden dann wohl etwas anderes fressen."
- "Für die Wissenschaft ist das eine Sensation!"
"So interessant finde ich Medusen jetzt auch wieder nicht."
- "Aber sie leben außerhalb ihres natürlichen Lebensraums. Und das in riesigen Mengen. Sie treiben in Schwärmen zu Tausenden durch diesen See. Das viel zitierte 'Wunder der Natur'."
"Evolution."
- "Ja, Evolution."
"Die Evolution ist etwas, auf die das Wort Wunder vielleicht zuträfe. Mindestens könnte ich mich mit wunderbar anfreunden. Aber Medusen außerhalb ihres natürlichen Lebensraums sind kein Wunder. Das ist Evolution. Die gewohnte Nahrung ist nicht auffindbar, ich habe Hunger und verspeise etwas anderes. Das schmeckt mir zu allem Überfluss auch noch, ist in Hülle und Fülle vorrätig und sorgt für eine steigende Population meiner Art. Das ist Evolution. Ich bin unabhängig von meinem Lebensraum, meiner Nahrung und meiner ursprünglichen Umwelt. Vielmehr habe ich mich den neuen Gegebenheiten angepasst; Evolution. Wenn jetzt jede Ausgeburt der Evolution gleich ein Wunder ist, wo kommen wir denn dann hin?"

Die selbsterfüllende Propheizeiung, deren Voraussetzung zur Erfüllung das Eintreten ihrer selbst ist, nennen wir rekursive Prophezeiung.

[Diesen Satz habe ich vorgestern morgen geträumt. Er ist in sich nicht streng logisch, hat mich aber aus dem Schlaf schrecken lassen und mich bis heute noch beschäftigt.]

Ich gehe in den Keller um die zwei leeren Flaschen Barre wegzubringen, die eh schon scheiße geschmeckt haben. Auf der Hälfte der Treppe sehe ich plötzlich den Keller wie er früher war. Er ist dunkel, wirkt unheimlich, es gibt überall Spinnennetze und deren Bewohnerinnen. In Gedanken sehe ich wieder die alten Holztüren mit der altertümlichen Türklinkenkombination. Die haben immer geklemmt, ich hab sie immer nur schwer aufbekommen. Ich sehe das Regal sich ausbreiten im Vorratskeller. Die eingemachten sauren Kirschen von '82 bis '84 in Augenhöhe vor mir. Für kurze Zeit wirkt all dies, ich bin zurück in der Zeit. Alles ist wieder gut, die kleine eigene Welt in Ordnung und heil, die größte vor mir liegende Schwierigkeit wird eben jene schwer zu bedienende Türklinkenkonstruktion, im Halbdunkel bei wachsender Panik vor der Angst zu öffnen und die Bierflaschen... ach ja, die Bierflaschen. Das Jahr 2003 hat mich wieder und im Gegensatz zu '85 bin ich mir sicher, dass der Schrecken echt ist. Und ich stelle mir immer die Frage, ob ich auch mal jemandem einen Keller bieten kann. Und ob ich ihm die Angst vor der Dunkelheit als größte Angst bieten kann. Aber IMMER und IMMERZU frage ich mich, ob ich nicht genau so bin??? Ob nicht auch ich mich plötzlich für mich entscheide??? Ob ich mich dann verpisse und die Schnauze voll habe?!? Tschüss, ich geh jetzt, Du hast ja noch einen Keller voll Erinnerung. Ich habe Angst vor mir und ich verabscheue den Gedanken an diese Tat. Ich habe Angst vor meiner Rebellion, meinem Kampf nach Ich-sein-können. Ich habe Angst, weil ich vielleicht diesen Kampf schon gewinne. Ich möchte demütig und dankbar mein Leben leben, doch ich weiß, ich werde explodieren. Vor Angst, vor Wut, vor Trauer und Schmerz. Weil mich keiner hört und weil ich stumm bin. Wieso kann ich nicht wieder klein, jung, naiv und so glücklich sein, wie ich es war? Warum musste all dies sterben und warum kann ich's nicht verstehen? Was gäb' ich für einen Tag, den ich wirklich unbeschwert genießen könnte! Es bleiben mir aber immer nur die zwei Sekunden.


[Oktober 2003]

 

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